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Komplexität aushalten: Lisa Gerigs Film «Die Anhörung»

Wenn du von diesem Blogartikel nicht „gespoilert“ werden willst, dann lies ihn nachdem du den Film gesehen hast.

Copyright: Lisa Gerig

Der Debütfilm der Schweizer Filmmacherin Lisa Gerig ist seit kurzem in den Kinos und hat bereits nationale und internationale Preise und Nominierungen eingesammelt, unter anderem den «Prix de Soleur» der Solothurner Filmtage. Und das wohl verdient. Nach zweijähriger intensiver Recherchearbeit ermöglichte uns Lisa Gerig einen spannenden und komplexen Einblick in ein nicht öffentliches, aber sehr zentrales und relevantes Verfahren des Asylbereiches.

Ein dokumentarisches Kammerspiel im SEM (Staatssekretariat für Migration): Vier Asylsuchende, vier ehemalige SEM Mitarbeitende, jeweils Dolmetschende, Rechtsberatende und Protokollführende. Sie spielen ohne Skript und Regieanweisungen eine ihnen allen bekannte Situation nach: Die Asylanhörung.

Es ist nicht leicht, zuzuschauen. Die Geflüchteten müssen, um ihr Recht auf Asyl zu begründen, intimste und schrecklichste Situationen im Detail nacherzählen. Dabei darf alles nachgefragt werden und sie dürfen jederzeit unterbrochen werden. Dazu kommt, dass die Mehrheit der Asylsuchenden aus Ländern mit autoritären Regimes stammt. Viele wurden in irgendeiner Form von diesen autoritären Regimes verfolgt. Es ist also kein Wunder, dass die Anhörung als Verhör wahrgenommen wird. Eine Vertrauensbasis, auf der traumatische Erlebnisse erzählt werden können ohne die Angst der eigenen Verfolgung oder der Verfolgung von zurückgebliebenen Angehörigen, ist erst mal schwer zu schaffen. Von vielen wird die Situation als sehr konfrontativ empfunden, schon allein die Sitzordnung gibt nach Aussage der Asylsuchenden das Gefühl «Einer gegen alle».

Bei einer Stelle berichtet eine nigerianische Asylsuchende über den Bruch mit ihrer Familie aufgrund ihres der Hexerei angeklagten und verfolgten Ehemannes. Tränen fliessen aus ihren Augen. Die Protokollführerin fragt nach, sie konnte nicht genau erkennen, an welcher Stelle der Erzählung die Tränen flossen. Sie besprechen es untereinander, sind sich nicht einig, fragen die Asylsuchende: «An welcher Stelle genau musstest du weinen?». Nun kann an der passenden Stelle im Protokoll dokumentiert werden: «Tupft sich Tränen aus den Augen». Empathie geht anders. Die Situation erscheint auf den ersten Blick skurril und taktlos. Kaum in einem anderen Rahmen würde so auf eine weinende Person reagiert werden. Dass sich die Person entmenschlicht und blossgestellt fühlt, ist nachvollziehbar. Doch könnte man es nicht auch so deuten, dass sich die SEM Mitarbeiterin Mühe gibt, der geflüchteten Person eine bessere Chance auf Asyl zu geben? Indem sie die emotionalen Reaktionen genau dokumentiert, wird das Erzählte glaubwürdiger und somit die Akte aussagekräftiger. «Ich vertraue dir, dass du mich nicht in die Pfanne haust» sagte ein ehemaliger SEM-Mitarbeiter zur Regisseurin. Nein, Lisa Gerig möchte nicht die SEM-Mitarbeitenden blossstellen. Viel eher möchte sie den Dialog mit allen Seiten eröffnen, um die Fehler im System zu erkennen.

Die Umdrehung der Perspektiven ist es, was den Film besonders spannend macht. Denn im zweiten Teil des Filmes kommt der Twist: Die  Machtverhältnisse drehen sich um, Asylsuchende befragen die SEM-Mitarbeitenden: «Wie erkennen Sie, ob jemand die Wahrheit sagt oder lügt?», «Haben gute Geschichtenerzähler eine bessere Chance auf Asyl?», «Wie gehen Sie damit um, dass Sie die Macht haben, über ein anderes Leben zu entscheiden?», «Wie gehen Sie damit um, dass die meisten Asylsuchenden, die zu ihnen kommen, traumatisiert sind?», «Würden Sie sagen, dass das Schweizer Asylsystem fair ist?». Die Fragen sind kritisch und nicht leicht zu beantworten. Dennoch bekommen beide Seiten die Chance, Fragen zu stellen und sich zu positionieren. Der Dialog ist eröffnet, schliesslich sitzen auf beiden Seiten des Tisches Menschen.

Copyright: Lisa Gerig

In der Podiumsdiskussion am 06. Februar im Kinok St. Gallen kam vor allem ein Punkt stark zur Geltung: Es mangelt an psychologischer Betreuung der Asylsuchenden während und nach der Anhörung. «Ich fühlte mich völlig nackt. Und genauso nackt wurde ich dann auch auf die Strasse ausgesetzt» erzählt Pascal aus Kamerun. Komplett aufgewühlt ging er aus dem Gebäude und musste sich erst mal eine halbe Stunde lang orientieren, bis er die Busshaltestelle erkannte. Eine psychologisch ausgebildete Person hätte ihn in der retraumatisierenden Situation betreuen können und ihm nach seiner Erzählung helfen können, zurück ins Hier und Jetzt zu kommen. Doch solch eine Betreuung ist in der Anhörung nicht vorgesehen. Ein Masterabschluss ist die alleinige Voraussetzung für die Arbeit als Asylanhörer*in im SEM, psychologische Kompetenzen werden nicht vorausgesetzt. Eine Rechtsbegeitung unterstutzt die Asylsuchenden juristisch in der Anhörung, doch der Umgang mit traumatisierten Menschen ist leider nicht Teil eines JUS-Studiums. Bei den kantonalen Stellen, die psychologische Betreuung für Geflüchtete anbieten, betragen die Wartezeiten leider um die sechs bis acht Monate…

Da gibt es noch Luft nach oben, jedoch kann das SEM nicht die Lösung geben für komplexe weltpolitische Situationen. Die Prozesse und Entscheidungen werden nicht willkürlich geführt, sondern aufgrund von durch Experten festgelegte Richtlinien. Und schliesslich ist die Anhörung ja auch eine Chance, gehört zu werden und für die eigenen Rechte einzustehen. Damit das besser gelingt, ist es ein Wunsch der Asylsuchenden, dass der Mensch bei der Anhörung stärker in den Mittelpunkt rückt, mit mehr Empathie und mit einer wohlwollenden Atmosphäre. Pascal aus Kamerun sagt dazu: «Ihr denkt, ach das sind ja nur geflüchtete Personen, aber nein, wir sind auch Teil dieser Gesellschaft. Und wenn wir kaputt sind, geht die Gesellschaft auch langsam kaputt». Und ja, das geht uns alle etwas an. Auch in der Bundesverfassung steht: «Die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwachen».

Wozu uns der Film inspiriert hat? In den Dialog zu treten. Sich gegenseitig ernst zu nehmen. Den Menschen mit seinen grundsätzlich guten Absichten zu sehen, auf beiden Seiten des Tisches. Komplexität auszuhalten. «Die Anhörung» ist ein Plädoyer für Dialog und Empathie.

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